humanistische psychotherapie

„Das, woran wir leiden, ist nicht unser Hirn; das, woran wir leiden, ist die Tatsache, dass wir in einer Welt leben, in der wir eigentlich wissen, wie es sein sollte. Und dass uns das so unendlich schwer fällt, das, was wir wissen, auch in unseren lebendigen Beziehungen mit anderen Menschen umzusetzen. Wir bräuchten eine andere Beziehungskultur. Wir müssten schauen, wie wir es eigentlich schaffen können, dass diese beiden Sehnsüchte auch gleichzeitig gestillt werden können. Wie wir zum Beispiel gleichzeitig frei und verbunden sein können. Und manch einer weiß, dass es geht. Manche haben es ja erfahren. Spätestens dann, wenn Sie einmal im Leben einen anderen Menschen wirklich geliebt haben oder geliebt worden sind, wissen Sie, dass das die Beziehungsform ist, in der man gleichzeitig frei und verbunden sein darf, weil das eigentlich das Kennzeichen von Liebe ist, dass man alles tut, damit der andere seine Potenziale entfalten kann. Dass der über sich hinauswachsen kann und sich gleichzeitig aufs Engste mit einem verbunden fühlen darf. Und alles andere ist eben keine Liebe.“

Gerald Hüther

Kind, humanistische Psychotherapie

Die humanistische Psychotherapie hat sich in Amerika nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt als eine Bewegung gegen Krieg, Materialismus und überholte Werte. Im Zentrum dieser Bewegung stand und steht der Wunsch, Menschen in der Entfaltung ihrer eigenen Potenziale und Möglichkeiten zu unterstützen. Dies beinhaltet einen Weg hin zu mehr gelebter Authentizität durch die Rückverbindung zum eigenen Wesenskern, zum Selbst. In ihrem Ideal möchte sie die Achtung und Entfaltung der Individualität des Einzelnen vereinbaren mit einer Übernahme von mitmenschlicher Verantwortung in einer Gemeinschaft, der die individuellen Fähigkeiten zugutekommen. Als Kern psychischen Leidens versteht sie die Entfremdung von der eigenen Natur, insbesondere durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse. 

Wachstum, Pflanze, Entfaltung

Die humanistische Psychotherapie fokussiert auf das Erleben im gegenwärtigen Moment – die Erfahrung des Körpers, der Gefühle und des zwischenmenschlichen Kontakts. Häufig weichen wir unserem gegenwärtigen Erleben aus – entweder weil wir nicht gewohnt sind, unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart oder auf uns selbst zu lenken, oder weil unsere Schutzmechanismen wirken. Die humanistische Psychotherapie bedient sich verschiedener sanfter Methoden, die erlebnisaktivierend wirken – z.B. achtsamkeitsbasierte oder imaginative Elemente, Aufstellung von und Kommunikation mit Selbstanteilen etc. Leben findet in der Gegenwart statt und nur in dieser ist Veränderung möglich. Die humanistische Psychotherapie schafft einen spielerischen und experimentellen Zugang zu Bewusstwerdung, Akzeptanz und Veränderung. Methoden sind dabei Angebote, die genutzt werden können, aber nicht zu emotionalem Erleben drängen sollten – es ist wichtig, dass sich der Prozess natürlich im eigenen Tempo entfalten darf. Katharsis kann befreiend sein, aber weniger, wenn sie gezielt herbeigeführt wird. Wichtiger als Katharsis und „emotionale Durchbrüche“ sind oft die vielen kleinen, kaum merklichen Schritte und Annäherungen im Verlauf.

Liebe, humanistisch
Sonnenuntergang, Enten

Der Krankheitsbegriff spielt in der humanistischen Psychotherapie keine Rolle, da der Wesenskern eines jeden Menschen als heil angesehen wird. Krisen werden als wichtige Chancen für psychisches Wachstum und Selbstwerdung verstanden. Ihre Perspektive gilt nicht der Herausarbeitung von Defiziten sondern der Stärkung von Ressourcen und Potenzialen. In den eigenen Möglichkeiten von einem Gegenüber gesehen zu werden, kann den Weg bereiten, sie zu leben und in die Welt zu tragen. Es kann sich riskant anfühlen, uns in unserer Individualität mehr zu zeigen, Position zu beziehen und einen eigenen Weg einzuschlagen. Kommen wir uns selbst näher, kann es jedoch passieren, dass dies zur Notwendigkeit wird – dass wir nicht mehr negieren können, wer und wie wir sind. 

Eine mögliche Gefahr der humanistischen Psychotherapie besteht in ihrer Tendenz, die Schattenseiten in der Psyche und in zwischenmenschlichen Bezügen zu ignorieren in dem Wunsch nach einer „besseren Welt“ oder dem Wunsch, ein „guter Mensch“ zu sein bzw. als solcher gesehen zu werden. Neben all dem, was heil ist und immer heil war, haben wir jedoch auch destruktive Potenziale, die genauso massiv in Erscheinung treten wie im Subtilen verborgen sein können. Schatten und destruktive Anteile müssen gesehen und konfrontiert werden, um integriert werden zu können – sowohl in der eigenen Psyche als auch im größeren Ganzen – sonst führen sie ein unkontrollierbares Eigenleben. Integrierte Schattenanteile dagegen können zu einer wichtigen Quelle von Kreativität werden. Erst wenn wir dieser Konfrontation standhalten, sind wir wirklich auf dem Weg zu mehr Ehrlichkeit und Authentizität – mit uns selbst und mit anderen. 

Baum, Wachstum, humanistische Psychotherapie