spiritualität - die reise zum selbst

„There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“

Leonard Cohen

 

„One does not become enlightened by imagining figures of light, but by making the darkness conscious.“

Carl Gustav Jung

 

“Es ist viel besser, voller Hoffnung zu reisen, als anzukommen.”

Stephen Hawking

Unendlichkeit, Vögel schwarz weiß, M. C. Escher

M. C. Escher

“Wir hatten die alte Vorstellung, dass es ‘draußen’ das Universum gibt und ‘hier’ den Menschen, den Beobachter […] Aber heute wird uns klar, dass das Universum ein Universum des wechselseitigen Teilnehmens ist, und so müssen wir das herkömmliche Wort ‘Beobachter’ aus den Büchern schlicht und einfach streichen und es mit dem neuen Wort ‘Teilnehmer’ ersetzen.”

John Wheeler

Farben, Kreise, Spiegelung, Bewusstsein, Spiritualität

Ich fühle mich keiner spirituellen Tradition oder Lehre zugehörig, auch wenn ich aus verschiedenen Kontexten Inspiration und Verständnishilfen ziehe. Das Beschriebene erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, trotz der „wir-Form“. Es ist eine sprachlich schwer zu bewältigende Annäherung an meine eigenen subjektiven Erfahrungen, verknüpft mit eben diesen Inspirationen und in der Literatur beschriebenen Mustern.

Wasser, Dunkelheit, Licht, Erkenntnis
Schatten, Ebenen, Spiritualität

Für mich ist Spiritualität kein abgrenzbarer Bereich unseres Lebens. Sie ist das Leben, das sich zunächst im „Gewöhnlichen“ ausdrückt – und unsere Beziehung zum Leben. „Spirit“ ist alles, was wir sind und uns umgibt, und Spiritualität das Paradoxon, zu dem zu finden, was wir sind und immer waren. Das Leben kann rau und harsch sein. Spiritualität bedeutet für mich nicht Existenzflucht sondern im Gegenteil, ein Wahrnehmen, Annehmen und Akzeptieren der menschlichen Existenz in all ihren Farben und Schattierungen. Spiritualität ist mehr Landen als Fliegen – ein In-Sich-Hineinwachsen anstelle eines Über-Sich-Hinauswachsens. Menschen haben eine erstaunliche Resilienz, also Widerstandskraft, im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens. Wir haben eine Fülle an ungenutzten Potenzialen. Aber unser Leben ist auch eine sehr vulnerable Angelegenheit für Körper und Seele. Unser Leben ist endlich, wir werden körperlich krank und seelisch verletzt, unsere Ressourcen sind begrenzt, wir können unmöglich all unsere Potenziale verwirklichen. Wir haben Grenzen und sind Naturgesetzen unterworfen. Unser Körper braucht Nahrung und unsere Seele auch – wir brauchen Nähe und Verbundenheit, auch wenn es schwer sein kann, sich dem zu öffnen, weil wir in der Intimität besonders verletzlich sind. 

See, Buddha, Berge, Spiritualität
Blätter, Wasser

Diese offensichtlichen Realitäten werden oft ignoriert in einer narzisstisch geprägten Gesellschaft, die Selbstgenügsamkeit zum Ideal erhebt. Wir wollen wachsen, wachsen, wachsen, aber wohin? Wir wollen glücklicher werden, aber was bedeutet das? Wie können wir glücklich sein, wenn wir glücklicher werden wollen? Wir wollen mehr haben, vor allem mehr vom Leben haben, und wissen doch, dass das Leben uns nicht gehorcht – dass wir unser Schicksal zwar mitbestimmen, aber nicht kontrollieren können. Also haben wir Angst. Wenn wir uns spüren würden, hätten wir Angst. Doch wir geben uns große Mühe, dieser Konfrontation mit der Angst, dem Leben, zu entkommen. Wir stützen uns auf unsere Konzepte, Vorstellungen und Überzeugungen. Sie geben uns Halt und vermeintliche Sicherheit – sie werden zum Boden, auf dem wir bauen, ob sie uns und unseren Mitmenschen gut tun oder nicht. Wir wollen uns unbesiegbar fühlen, unser Leben „in der Hand haben“ und „drüber stehen“, vor allem wollen wir „frei“ sein. Aber wenn wir das Leben in der Hand haben wollen, haben wir uns selbst in der Hand, wir bestehen auf unsere Sicht der Realität, sind gefangen, von der Ganzheit getrennt und unverbunden. Wir leiden. 

Spirituelle Traditionen haben sich viel mit der Frage beschäftigt, wie wir uns vom Leiden befreien können. Leiden war schon immer eine Bedingung der menschlichen Existenz und wird es immer bleiben. Wenn wir diese Bedingung ablehnen, sind wir nicht frei. Unsere Existenz auf einer tieferen Ebene zu bejahen, bedeutet, das Leiden zu bejahen – darin haben wir die Chance, frei oder zumindest freier IM Leiden zu werden. Unsere Beziehung zu uns selbst, zu anderen, zum Leben, zur Welt und letztlich auch zum Leiden verändert sich dabei grundlegend. 

Spiegelung, Verzerrung, Realität, Bewusstsein

Es ist ein Mythos, dass spirituelle Einsicht schwer zu erlangen ist. Sie ist potenziell für jede*n zugänglich, auch ohne jahrelange Meditationspraxis. Selten wird sie vielleicht nur erlangt, weil sie massiv unbequem ist, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit erfordert. Wir opfern nicht gern unsere vermeintliche Sicherheit. Auf uns wartet kein Zustand ewigen Friedens, in dem wir ausruhen können, sondern eine Reise ins Ungewisse, von der wir nicht mehr zurücktreten können. Wir müssen uns eingestehen, dass wir sehr viel weniger wissen, als wir zu wissen geglaubt haben. Wir sehen und fühlen die Leere in der Form. Wir gehen durch emotionales Niemandsland, verlieren unsere bisherigen Motivationen und Orientierungen. Unsere Worte, Konzepte, Annahmen über uns und die Welt erscheinen leer. Wir desidentifizieren uns. Und gleichzeitig gibt es Teile in uns, die nicht aufhören, gegen die Desidentifikation zu kämpfen – neue Identifikationen entstehen. Diese sind jedoch nicht mehr so starr wie unsere früheren Identifikationen, sie sind vergänglich wie alles in unserem Leben. Wir durchschauen unsere Identifikationen schneller, glauben ihnen weniger. Vielleicht können wir uns schwer vorstellen, wie dieser zunächst bedrohlich erscheinenden Leere neue Lebensimpulse entspringen können. Doch wenn wir Zugang zu unserem Selbst bekommen, ein Selbstgefühl außerhalb von Identifikationen entwickeln, fühlen wir, dass Leere Form ist. Wir lernen, Konzepte wieder zu nutzen, aber anders als zuvor – undogmatischer, freier, leichter, weniger ernst. Wir sind weniger darum bemüht, „recht zu haben“. Wir öffnen unser Herz mehr, fühlen die Liebe in allem, sind verbundener. Auch wenn wir um die letztendliche Relativität unserer Meinungen wissen, haben wir sie – als innere Notwendigkeit, uns mitfühlend in der Welt zu positionieren. Bewusstsein ist außerhalb von Dualität oder Non-Dualität, mit unseren Gedanken unmöglich greifbar und dennoch erfahrbar, es ist der stille Grund in den Dingen und abseits aller Dinge. Lebendigkeit jedoch existiert nur in der Polarität. Im Hinduismus ist Shiva der Gott der Polarität, Zerstörung und des Tanzes. Er erinnert uns an den Tanz des Lebens, der getanzt werden muss, an die positive Kraft der Aggression und daran, dass es keine Schöpfung ohne Zerstörung gibt. Lebendigkeit ist Kraft und Kraft existiert nicht ohne Spannung – je freier wir uns fühlen in unserem Tanz, desto mehr Kraft steht uns zur Verfügung. Ambivalenzen und Konflikte müssen gelebt werden und je mehr wir dies bewusst und offen zulassen, desto weniger Reibung erfahren wir, desto weniger sind wir mit dem Konflikt in Konflikt. Die Quantenphysik zeigt uns, dass Atome sowohl Wellen als auch Teilchen sind – sie sind sowohl Energie als auch Substanz. Was auf einer Ebene der Realität als Gegensatz erscheint, ist auf einer anderen Ebene ein und dasselbe. Es gibt keine Trennung zwischen „uns“ und „unserer Umwelt“ . Es gibt keine Beobachter*innen sondern nur Teilnehmer*innen, Wirklichkeit ist subjektiv. Der sich als getrennt empfindende „Beobachter“ beeinflusst den Ausgang des quantenphysikalischen Experiments im Sinne seiner Vermutung – eine Illusion von Wirklichkeit wird genährt. 

Shiva
Brunnen, Tiefe, Bewusstsein, Unbewusstes

Der beschriebene Prozess des Erkennens von Leere in der Form und Form in der Leere erstreckt sich meist über längere Zeit, Jahre, vielleicht lebenslang. Die größte Herausforderung ist dabei wohl, unsere Erkenntnis zu verkörpern, sodass sie mehr und mehr unser Handeln durchdringt – eine Reise ohne Endstation.

Spiritualität, Leere, Desidentifikation

Spirituelle Öffnung bzw. Erkenntnis kann spontan oder durch spirituelle Praxis geschehen. Wenn wir weise mit ihr umgehen, führt sie zur Neuausrichtung eines Menschen auf Wesentliches hin, auf das Selbst. Sie löst unsere psychischen Probleme jedoch nicht und heilt nicht unsere Traumata. Die spirituelle und die psychisch-emotionale Entwicklungslinie sind unterschiedliche Linien, auch wenn sie interagieren. Spirituelle Erkenntnis kann psychische Entwicklung vorantreiben und Traumata wiederum können eine spirituelle Öffnung begünstigen. Je stärker wir traumatisiert sind – oder auch je sensitiver wir auf Verletzungen reagieren – desto mehr Löcher haben wir potenziell in unserem „psychischen Gerüst“. Durch diese Löcher scheint das „Licht der Erkenntnis“, wir kommen mit unserem Unbewussten leichter in Kontakt. Traumata können uns zu mehr innerer Komplexität verhelfen, aber genauso erschweren sie den Umgang mit dieser Komplexität. Durch eine spirituelle Öffnung treten unverarbeitete Traumata an die Oberfläche. Sind die Traumata massiv und wir unvorbereitet auf den Umgang mit dieser Massivität, überfluten sie uns. Es ist uns nicht möglich, in der Gegenwart verankert zu bleiben und uns den Wunden zuzuwenden. Dissoziation – ein notfallmäßiger Schutzmechanismus – führt zu einer Trennung von uns selbst und von unserer Umwelt, anstatt dass wir uns verbundener fühlen. In Extremfällen führt dies in eine Psychose. Die Verarbeitung braucht viel Zeit und Geduld – je größer die Verletzungen sind, desto schwieriger ist sie für gewöhnlich. Vor allem muss die Dissoziation durchbrochen werden, wir müssen lernen, uns auf neue Art zu erden.

Spiegelung, Wasser
Sonnenuntergang, Tempel, dunkel, Licht, Erkenntnis

In spirituellen Kontexten wird an die Oberfläche drängenden Traumata oder dissoziativen Mechanismen nur selten Beachtung geschenkt, weil das entsprechende Wissen fehlt, was fatale Folgen haben kann. Manche spirituelle Praktiken verstärken dissoziative Tendenzen sogar bzw. lehren eine dissoziative Wahrnehmung – z.B. Meditationspraktiken mit dem Ziel einer Entwicklung von Gleichmut, wo Gefühle als etwas Niederes betrachtet werden, das es loszuwerden gilt. Weiterhin werden Dissoziation und Desidentifikation oft verwechselt, aber sie unterscheiden sich grundlegend in ihrem Wesen: In der Dissoziation flüchten wir in einen Nebel oder eine Parallelwelt, wir verlieren an Kontakt, an Erdung, an Bezug zur Realität. In der Desidentifikation gewinnen wir an Kontakt, indem wir weniger eingeschränkt sind durch unsere Denkstrukturen – wir sind offener, weicher, flexibler, dem Leben näher. Wir steigen aus unseren Geschichten über das Leben und uns selbst aus und werden offener, es tatsächlich zu erfahren. Es kann jedoch länger dauern, bis Desidentifikation sich auf diese Weise manifestiert bzw. erlebt wird, da Körper und Seele sich auf die Veränderungen einstellen müssen.  

Bewusstsein, Spiritualität
Sonnenaufgang, Erkenntnis, Licht

Wenn wir uns auf dieser spirituellen Reise befinden, ist es wichtig, zwischen Desidentifikation und Dissoziation unterscheiden zu lernen. Ebenso ist es wichtig, zwischen der spirituellen und der psychischen Entwicklungslinie unterscheiden zu lernen und sich auf beiden zu verorten. So können wir ungefähr einschätzen, worin unsere Traumata bestehen, die Zuwendung benötigen, und welche emotionalen Turbulenzen ein direkteres Nebenprodukt der spirituellen Erkenntnis sind. Dies kann schwer sein ohne Unterstützung – vor allem aufgrund der chaotischen und herausfordernden Natur dieses Prozesses. Unterstützend ist ein Gegenüber auf Augenhöhe mit genug Sensibilität und Respekt vor der Vulnerabilität dieser Situation – ein Gegenüber, das Raum gibt ohne einzugreifen und dennoch Wahrnehmungen zur Verfügung stellt, um gemeinsam einen ungefähren Standort auf der inneren Landkarte – spirituell und psychisch – einkreisen zu können. So können wir lernen, unsere Verletzlichkeit und Fehlbarkeit anzunehmen, denn vor allem diese lassen uns menschlicher werden und tieferes Mitgefühl für uns und andere entwickeln.

Mönche, Kinder, Nähe, Verbundenheit, Kontakt
Berge, Leere, Weg

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"Out of Vishnus mouth"
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Geschichte aus dem Hinduismus zum Prozess der spirituellen Erkenntnis

 

Aus: "Classic Tales from Mystic India" (Kamala K. Kapur)